Eine der spannendsten Fragen, die seit Unzeiten die Menschen bewegt. Können wir die Zukunft voraussagen? 

Nach den Vorstellungen des französischen Wissenschaftler Pierre-Simon Laplace, der offenbar den wissenschaftlichen Determinismus als einer der ersten formulierte, wohl schon. Seine Theorie lautet, alles, wirklich alles in unserem Universum gehorche exakten, unveränderlichen (Natur-) Gesetzen. Wir müssen nur die einzelnen Bedingungen kennen und können so nicht nur die Vergangenheit rekonstruieren, sondern auch den zukünftigen Verlaufes exakt und damit vollständig erfassen und vorhersagen. Die im Jahr 1900 aufgestellte Ad-hoc-Hypothese von Max Planck, die Unschärferelation von Heisenberg und auch die Chaosforschung, die sich mit komplexen nichtlinearen Wechselwirkungen in dynamischen System auseinandersetzt, widerlegten jedoch Laplace. Aktuell oder vielleicht auch nie, ist es uns möglich, die Zukunft genau voraussagen zu können. Aber vielleicht kennen die Menschen nicht oder noch nicht alle Wechselwirkungen, Vernetzungen und Rückkopplungseffekte, die zu einer „ich lege dafür die Hand ins Feuer“ Prognose führen.  

Mit seinem berühmten Satz „Gott würfelt nicht“, hat uns Albert Einstein zwar Hoffnung gemacht, dass wir all diese Zusammenhänge erkennen können, aber damit benötigen wir ein Wesen mit übermenschlicher Intelligenz. Dieses Wesen, auch als  Laplace-Dämon bezeichnet, muss übernatürliche Kräfte besitzen, jede einzelne Konstellation und jedes Detail kennen und werten können, um die Zusammenhänge zu koordinieren, damit die Vergangenheit und zukünftige Entwicklungen treffsicher voraussagt werden können. Vielleicht wird es die Entwicklung der künstlichen Intelligenz ermöglich. Nur jetzt, mit uns Sterblichen, ist das außerhalb unseres Vermögens, die Zukunft eines Individuums treffsicher zu prognostizieren. 

Das klassische Beispiel dafür ist der Astrophysiker Stephen Hawking.  Mit 21 Jahren wurde bei ihm die Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) gestellt. Auch heute noch wird die durchschnittliche Lebenserwartung dieser chronischen Erkrankung mit 3 bis 5 Jahren, selten über 10 Jahre angegeben. Wie schreibt Hawking selbst „Irgendwann muss man mir die Diagnose ALS mitgeteilt haben[…]Meine Krankheit schien rasch voranzuschreiten[…]Doch dann verlangsamte sich der Krankheitsverlauf, und ich wandte mich wieder begeistert meiner Arbeit zu[…]1985, als ich das CERN, die Europäische Organisation für Kernforschung, in der Schweiz besuchte, bekam ich eine Lungenentzündung[…]Mit Blaulicht brachte man mich in das Kantonspital in Luzern und schloss  mich an ein Beatmungsgerät an. Die Ärzte teilten Jane (seiner Frau) mit, meine Erkrankung sei nun so weit fortgeschritten, dass man nichts mehr für mich tun könne und es am besten sein, die Geräte abzuschalten. Doch Jane weigerte sich und ließ mich mit einem Flugzeug ins Addenbrooke‘s Hospital in Cambridge transportieren.“

Bekanntermaßen lebt Hawking noch weitere 33 Jahre und verstirbt im Alter von 76 Jahren. 

Was lehrt uns das? Wir können nicht in die Zukunft sehen, schon gar nicht in die individuelle Lebenserwartung eines Menschen. 

Leider wird es heute zunehmend usus Therapieoptionen und auch Kontrollmöglichkeiten beim Diabetes mellitus dem Betroffenen aufgrund seines kalendarischen Alters zu offerieren oder in Leitlinien vorzugeben. Das kalendarische Alter ist aber nur eine Größe, den Führerschein zu erlangen, eigenverantwortlich entscheiden zu dürfen, die Altersgrenze für schwerverdauliche Filme zu erreichen oder zu wissen, wann man die Rente/Pension beantragen darf. Schlicht eine gesetzliche Kennziffer, die über die  biologische Verfassung desjenigen nichts aussagt. Bei chronischen, potentiell die Lebenserwartung und die Lebensqualität einschränkenden Erkrankungen allein aufgrund des kalendarischen Alters dem Betreffenden eine optimierte Therapie und Kontrolle zu versagen oder nicht in Erwägung zu ziehen, fördert Komplikationen. Aber es steht niemandem zu, Gott spielen zu wollen. Ausnahme! Der Betroffene wünscht nach umfassender Aufklärung keine Veränderung oder so traurig es ist, er kann die Behandlungskosten dafür nicht aufbringen oder zusammenkratzen.

 Niemand sollte sich daher einreden lassen, dass aufgrund seines im Pass eingetragenen Geburtsdatums die Einstellung der Blutglukose nicht mehr wichtig sei und nur noch auf die Begleitkrankheiten geachtet werden soll. Fortgeschrittenes Alter liegt bekanntermaßen im Auge im Auge des Betrachters. Einige behaupten ab 60 Jahre. Andere meinen, das fortgeschrittenes Alter mit Einstieg der Rentenzahlung anzusetzen ist. Bei Profisportlern spricht man hingegen in einigen Disziplinen bereits ab 30 Jahre von Senioren. Und, junge Leute bis Mitte 20, schon Ärzte, sehen mitunter alle  ab 50 schon als Grufti an. 

Es muss als obsolet angesehen werden bei wem aufgrund des Geburtsdatums eine dem Erkenntnisstand entsprechende Therapie greifen darf und bei wem nicht. Die Würde des Menschen ist unantastbar, egal welches kalendarische Alter derjenige aufweist. Niemand weiß, wie alt der Einzelne wird, aber Eingeweihte wissen, dass Diabetiker um ein Vielfaches teurer werden, wenn dieser von vermeidbaren Komplikationen plus zunehmender altersbedingter Gebrechen heimgesucht wird.  Diabetes ist bereits heute ohne „altersbedingte Gebrechen“ die zweitteuerste Erkrankung. Von den aufzuwendenden Kosten werden mehr als 75% für die Behandlung vermeidbarer Komplikationen und nicht für die Behandlung der Grundkrankheit ausgegeben. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Nicht unerwähnt bleiben soll zusätzlich die Tatsache, dass durch eine derartige Vorgehensweise vorzeitig die Lebensqualität des Einzelnen erheblich einschränkt wird.

Daher gilt: 

  • Das festzusetzende Therapieziel ist auf den Diabeteserkrankten und sein biologisches Alter individuell abzustimmen, damit die grundsätzlichen Behandlungsziele beim Diabetes mellitus erreicht werden. Die Binsenweisheiten darf niemand der Beteiligten aus dem Auge verlieren: Nichtdiabetiker haben weniger frühzeitig auftretenden, lebenseinschränkende Komplikationen als Diabeteserkrankte und was unterscheidet den Diabetiker vom Nichtdiabetiker – die Höhe der Blutglukose. Folglich ist die Blutglukose so normal wie möglich einzustellen, wobei schwere Hypoglykämien zu vermeiden sind. 
  • Die Zumutbarkeit und Umsetzung der diagnostischen und therapeutischen Aufwendungen (unter Beachtung von Indikationen, Nebenwirkungen und Kontraindikationen der Medikation) ist kontinuierlich an den jeweiligen geistigen, seelischen und körperlichen Zustand anzupassen. Die Therapie soll eine vertretbare Angemessenheit für alle daran beteiligten Personen beinhalten. 

Erhöhte Blutglukose verursacht bekannterweise keine Schmerzen oder eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens, wohl aber in Abhängigkeit von der Langjährigkeit einer schlechten Einstellung des Stoffwechsels vaskuläre Folgekomplikationen. Mitunter sprechen Menschen auch von Folgeerkrankungen und suggerieren damit, dass ein langjähriger Diabetes nahezu zwangsläufig Komplikationen entwickelt. Das ist falsch. Unabhängig vom Alter und Diabetestyp ist für jede Komplikation, die für den Diabetes als „typisch“ angesehen wird, die Güte der Stoffwechseleinstellung entscheidend. Dauerhaft hohe, weit über der Norm liegende Blutglukose, ist die Ursache für die Entwicklung der Komplikationen. Das Wort „Spätkomplikationen“ trifft den Kern daher nur, indem auf die Langfristigkeit einer schlechten Stoffwechseleinstellung bezug genommen wird.  

Es ist nachgewiesen, dass nach durchschnittlich 10 bis 20 Jahren Erkrankungsdauer und vorwiegend schlechter Stoffwechseleinstellung sowie nicht gut behandelter Risikoparameter wie Fettstoffwechselstörung und Bluthochdruck Diabeteserkankte im Durchschnitt ein:

  • 5fach erhöhtes Risiko der Erblindung, 
  • ein 2-6 fach höheren Anteil an Herzerkrankungen und Hirnleistungschwäche (cerebro-vaskuläre-Insuiffizienz), 
  • ein 22fach höheres Amputationrisiko der Beine, 
  • ein ca. 60fach höheres Risiko für das Versagen der Nierenfunktion im Vergleich zu nichtdiabetischen Bevölkerung aufweisen.  

Drücken wir es klarer aus: In Deutschland werden jährlich 27.000 Amputationen, 6.000 Neuerblindungen, 8.000 neue Dialysefälle, 27.000 Herzinfarkte und 44.000 Schlaganfälle registriert. 

Die Ursache all dieser Misere ist die erhöhte Blutglukose, die Hyperglykämie. Bekanntermaßen ist Glukose unsere wichtigste Energiequelle. Auch das Gehirn ernährt sich unter normalen Umständen zu 100% aus Glukose. Durch ein kompliziert abgestimmtes Regelsystem wird die Blutglukosehöhe immer in konstanten Grenzen gehalten. Versagen diese unendlich komplizierten Mechanismen steigt die Glukose im Blut an und wird toxisch = schädlich. Das Fachwort dafür heißt Glukotoxizität. Die dauerhaft erhöhte Glukose zerstört die Zellstrukturen und schlussendlich komplette Organe oder Organsysteme. 

Gegenwärtig wird zumeist diese Glukotoxizität auf die Zerstörung der insulinproduzierenden Zellen bezogen. Von einer pathologischen Glukoselast ist die Rede. Die AUC – Area under the curve – sei erhöht. So konnte nachgewiesen werden, dass auch beim Typ 2 Diabetes, der durch einen relativen Insulinmangel gekennzeichnet ist, die Anzahl der insulinproduzierenden Zellen durch eine andauernde pathologische Glukoselast zerstört werden. 

Dennoch ist eine einseitige Betrachtung der Glukotoxizität ausschließlich auf den Untergang der B-Zelle in der Bauchspeicheldrüse zu zentrieren falsch, da allen Organen mal schneller, mal weniger schnell das gleiche Schicksal widerfährt, wie der Beta-Zellmasse, die das körpereigene Insulin produzieren und schlussendlich versagt, das Insulin zu produzieren.

Nahezu jedes Organ im Körper kann durch hohe Glukose beeinträchtigt und schließlich in seiner Funktion zerstört werden. Zumeist wird in der auswertenden Wissenschaft auf  sogenannte Prädilektionsstellen, Vorzugsstellen fokussiert, an denen die erhöhte Glukose im Blut vorrangig ihre toxische Wirkung entfaltet. Dazu zählt das große und kleine Gefäßsystem. Sofern die großen Gefäße betroffen sind, sprechen wir von einer Makroangiopathie = Veränderungen an den großen Gefäßen. Betroffen sind vor allem die großen Gefäße im Herzkreislaufsystem, so dass ca. 75% der Diabeteserkrankten frühzeitig eine Herzkranzgefäßerkrankung, einen Schlaganfall oder die Entwicklung eines diabetischen Fußes erleiden. 

 Der Fachausdruck für die Veränderungen an den kleinen Gefäßen heißt Mikroangiopathien. Bei den kleinen Gefäßen dominieren die Funktionseinschränkungen an den Nieren, Augen aber auch den Nerven. 

Wie schon dargestellt, ist das ein über Jahre sich entwickelnder zerstörerischer Prozess. Diesen zerstörerischen Vorgang frühzeitig aufzuhalten lohnt sich! 

In zahlreichen Studien konnte so eine Wiederherstellung der insulinproduzierenden Beta-Zelle in der Bauchspeicheldrüse belegt werden, aber auch die gute Funktionsfähigkeit des entsprechenden Organs  oder Organsystems ohne wesentliche Beeinträchtigungen wieder erzielt werden.  Es gibt jedoch einen „Point of no return“. Wenn der Umkehrpunkt überschritten wird, ist eine Wiederherstellung der Funktion eines Organs oder eines funktionellen Zellsystems nicht mehr möglich. Aber bevor dieser Point of no return erreicht ist, gibt es viele Möglichkeiten der positiven Beeinflussung, um die Wiederherstellung der Organfunktion zu erlangen oder zumindest ein Fortschreiten des Organversagens zu verhindern.  Eine der vordringlichsten Aufgaben ist dabei, die Glukose im Blut als Toxin reduzieren. Es gibt viele therapeutische Möglichkeiten das zu erzielen. In den modernen Industriestaaten haben wir das Glück, grundsätzlich fast alle Therapieoptionen angeboten zu bekommen. Es wird nur dringend erforderlich, dass die Bürokraten der Gesundheitssysteme davon überzeugt werden, dass vorbeugen besser als heilen ist, denn es ist kostengünstiger als Komplikationen zu behandeln und es ist vor allem möglich. Es erspart unendliches Leid bei den Betroffenen und Milliarden in den gebeutelten Gesundheitsressourcen eines jeden Staates, die jeder einzelne aufbringen muß, nicht der Staat, der nur Treuhänder unseres Geldes ist.

In der Bildergalerie werden Beispiele von Mikro- und Makroangiopathien dargestellt und desgleichen wann der Point of no return überschritten ist.

In einem gesonderten Artikel werde ich die grundlegenden Zusammenhänge erklären, die im wesentlichen auf den Erkenntnissen des französischen Naturwissenschaftlers Louis Camille Maillard basieren. Maillard veröffentlichte bereits 1912 warum Lebensmittel braun werden, kurz gesagt altern. Erst über 50 Jahre später, 1968, beschreiben Samuel Rahbar, Olga Blumenfeld und Helen R. Ranney die Entdeckung eines unüblichen Hämoglobin, das glykierte Hämoglobin (HbA1), bei Patienten mit Diabetes mellitus. Letztlich kommt Erwin Schleicher das Verdienst zu, die „Bedeutung der Maillard Reaktion in der menschlichen Physiologie“ erkannt zu haben und mit seiner 1986 erschienen Habilitationsschrift die „Nichtenzymatische Glycosilierung von menschlichen Proteinen“ den Bogen zwischen der Maillard Reaktion und der Entstehung des vorzeitigen Alterungsprozessen beim Diabeteserkrankten zu spannen. 

Die Glukose ist ein Januskopf. Sie bedeutet in vernünftiger Menge Leben und in überhöhter Form ist sie Gift und lässt den Körper vorzeitig altern und schwerste Komplikationen entwickeln. Die nichtenzymatische Glykierung des Hämoglobins wird durch Bestimmung des HbA1c gemessen und ist eine unkomplizierte Blutentnahme. Die Höhe der „Verzuckerung“ des roten Blutkörperchens“ wird zum Dreh-und Angelpunkt der Entwicklung von Komplikationen. 

Fassen wir zusammen:

  • Das kalendarische Alter sollte nicht die Basis für eine zu offerierende optimierte Therapie sein.
  • Spätkomplikationen können durch eine gute Stoffwechseleinstellung minimiert werden, so dass wesentliche Einschränkungen der Lebensqualität vermieden werden und eine höhere Lebenserwartung wahrscheinlich ist.
  • Jeder Diabeteserkrankte ist ein Selbsttherapeut, trägt die Verantwortung und folglich aus die Konsequenzen. Der Arzt kann Empfehlungen abgeben, aber er lebt nicht 24 Stunden am Tag  mit dem Betroffenen zusammen, um zu überprüfen, ob seine Vorgaben auch eingehalten werden. 
  • Meine Empfehlung ist, jeder Erkrankte sollte offen mit seinem Arzt reden. Sein Arzt ist nicht ein kirchlicher Beichtvater, der irgendeine Sünde zu vergeben hat und auch keine Gerichtsinstanz, der „Fehlverhalten“ oder Einhalten der Vorgaben ahndet. Der Arzt, möglichst ein Spezialist für Diabetes, ist der unter Schweigepflicht stehende professionelle Partner.

Literatur

Stephen Hawking Kurze Antworten auf große Fragen, Klett-Cotta; Klett-Cotta; Auflage: 13. Druckaufl. (23. Dezember 2018), ISBN-10: 3608963766 – Originaltitel  Brief Answers to the Big Questions, John Murray (16. Oktober 2018), ISBN-10: 1473695988

 Samuel Rahbar, Blumenfeld Olga, Reine Helen M. Studies of an unusual hemoglobin in patients with diabetes mellitus, Biochemical and Biophysical Research CommunicationsVolume 36, Issue 5, 22 August 1969, Pages 838-843

 Erwin Schleicher Die Bedeutung der Maillard-Reaktion in der menschlichen Physiologie, Zeitschrift für ErnährungswissenschaftFebruary 1991, Volume 30, Issue 1, pp 18–28

E. Schleicher and O. H. Wieland, Protein Glycation: Measurement and Clinical Relevance, J. Clin. Chem. Clin. Biochem. Vol. 27, 1989, No 9, pp. 577-587, 1989 Walter de Gruyter & Co. Berlin · New York

Schleicher E  Nichtenzymatische Glucosylierung von menschlichen Proteinen: analytische, diagnostische und funktionelle Aspekte. Habilitationsschrift: Technische Universität München, 1986

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